Maria Pappa
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Sidney Dreifuss in seinem Büro 1938. z.V.g.
Sidney Dreifuss war Kaufmann in St.Gallen und gab seinen Beruf auf, um sich vollamtlich der Betreuung jüdischer Flüchtlinge anzunehmen. Die Beurteilungen seiner Arbeit fallen sehr unterschiedlich aus. Kritisch wird seine Belastung von Paul Grüninger im Untersuchungsverfahren beurteilt.
Flüchtlingsbetreuung Sidney Dreifuss wurde 1899 als Sohn des Kaufmanns Hermann Dreifuss geboren. Dieser war vom «Ghetto-Dorf» Endingen im Aargau nach St.Gallen gezogen. Sidney besuchte die Handelsschule in Neuchâtel und arbeitete dann zunächst in Mailand und Barcelona. 1928/29 bereiste er Lateinamerika auf Kundensuche für St.Galler Stickereien. Später handelte er als Textilagent mit Rohstoffbaumwolle. Er war äusserst sprachbegabt. Er sprach fliessend Französisch, Spanisch, Italienisch und Englisch. Seine Frau Jeanne Bicard lernte er auf einem jüdischen Ball in St.Gallen kennen. 1938 wurde er vollamtlicher Leiter der Israelitischen Flüchtlingshilfe St.Gallen. Er war insofern religiös, als er an hohen Feiertagen in die Synagoge ging und am Freitagabend die Sabbat-Kerze anzündete. Koscher gegessen wurde zu Hause nicht. Politisch stand er dem Freisinn nahe. 1942 zog er mit seiner Familie nach Genf, wo Sidney Dreifuss eine Stelle als Statistiker im Kriegsernährungsamt angenommen hatte. Er stellte sich für kein Amt mehr zur Verfügung, um sein Privatleben nicht mehr durch ein öffentliches Amt beschneiden zu lassen. Trotzdem blieb er ein Beobachter des weltpolitischen Geschehens. Er starb bereits mit 56 Jahren.
Ruth Dreifuss sagte von ihm, er sei «kein begeisterter Händler» und geschäftlich nicht besonders erfolgreich gewesen, habe eher dem unteren Mittelstand angehört. Er sei ein offener Mensch gewesen, berichtete sein Sohn Jean Jacques, der vier Jahre älter ist als Ruth und als Medizinprofessor in Genf wirkte. Er habe mit Begeisterung die Satire-Zeitschrift «Nebelspalter» gelesen, vor allem weil sie energisch gegen braune und rote Fäuste gekämpft habe. Über die steifen Förmlichkeiten der Ostschweiz habe er sich gerne lustig gemacht, zum Beispiel wenn die Frau eines Polizeiwachtmeisters mit «Frau Wachtmeister» angesprochen wurde. Weggefährten beschrieben ihn als eher klein, immer mit einer Tabakspfeife im Mund. 1933 gründete Sidney Dreifuss zusammen mit 35 anderen St.Gallern den «Bund junger Juden zur Abwehr des Antisemitismus». Die Ausrichtung ihrer Abwehrtätigkeit zielte darauf ab, die Behörden zu bewegen, «gegen Plakate, Schriften und öffentliche Reden mit antisemitischer Propaganda» vorzugehen. Dem Bund war allerdings nur ein kurzes Leben beschieden, weil der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) unterdessen beschlossen hatte, die antisemitische Abwehr gesamtschweizerisch zu organisieren.
Jüdische Flüchtlinge kamen in immer grösserer Zahl nach St.Gallen. Innerhalb dreier Wochen waren es 500. Das war für Sidney Dreifuss natürlich eine grosse Herausforderung. Er verteilte die Flüchtlinge auf Privatwohnungen in St.Gallen, vor allem im Linsebühlquartier, in die Pensionen Walfisch und Casino. Er richtete in Wald-Schönengrund, Degersheim und Gossau spezielle Flüchtlingslager ein. Das Geld dafür brachten die Mitglieder der Kultusgemeinde auf. Die Zusammenarbeit war eng und unkompliziert. Der Präsident der Kultusgemeinde hatte sein Büro nur wenige Meter von demjenigen von Sidney Dreifuss entfernt.
Unterschiedlich wurde das Wirken von Sidney Dreifuss als Leiter der Israelitischen Flüchtlingshilfe St.Gallen beurteilt. Der Industrielle Ernst Kleinberger, der nebenamtlich ebenfalls in der Flüchtlingshilfe tätig war, sagte, er sei im Umgang mit Flüchtlingen sehr einfühlsam gewesen. Er habe sich aufgeopfert und sich dabei krank gemacht. Kleinberger beschrieb Dreifuss als fröhlichen, ganz bescheidenen «Naturmenschen». Am glücklichsten sei er in seinem winzigen «Paradiesli» gewesen, in seinem kleinen Ferienheim in Teufen, das er häufig aufsuchte. Es stimme nicht, dass er kühl und arrogant mit Flüchtlingen umgesprungen sei, wie behauptet werde. Er habe immer wieder auch Emigranten in sein Ferienheim eingeladen. Seine Ehefrau Jeanne Dreifuss schrieb in ihr Tagebuch: «Sigi stürzte sich mit Feuereifer in diese grosse fürsorgerische Tätigkeit. Durch sein tatkräftiges Handeln hat er vielen verzweifelten Menschen Lebensmut gegeben.» Harry Weinreb dagegen soll erzählt haben, Sidney Dreifuss habe geäussert, Weinrebs Vater habe es ja in Dachau gut und ein Dach über dem Kopf gehabt. Ernst Kleinberger meinte zu dieser sarkastischen Aussage, er könne die berechtigte Wut dieses Flüchtlings verstehen, aber man müsse auch die schwierige Situation in der damaligen Flüchtlingshilfe begreifen. Die Emigranten hätten Sidney Dreifuss richtig bestürmt, zu Notlügen gegriffen, um durchzukommen und ihn letztlich überfordert. Ein Kritiker nannte ihn auch einen distanzierten Bürokraten, der den Flüchtlingen zu spüren gegeben habe, wie unerwünscht sie seien. In einem Protokoll des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) ist zu lesen, er habe berichtet, wie schwierig die Verhältnisse im Kanton St.Gallen seien, wo die Polizei eher zu entgegenkommend sei. So sei die Zahl der Flüchtlinge erheblich gestiegen. Es kämen auch unerwünschte Elemente ins Land und auch alte Leute, deren Emigration fast unmöglich erscheine. Man sei in St.Gallen nicht der Meinung, dass die Grenze hermetisch zu schliessen sei.
Zur Kritik an ihrem Vater erklärte Ruth Dreifuss, die von 1993 bis 2002 dem Bundesrat angehörte, das Bild, das einige ehemalige Flüchtlinge von ihrem Vater zeichnen, entspreche überhaupt nicht ihrem eigenen. Ein Choleriker sei er ebenfalls nicht gewesen. Es seien auch Dankesbriefe eingetroffen. Selbst dürfte Ruth Dreifuss den Umgang ihres Vaters mit Flüchtlingen nicht mitbekommen haben, denn schon als sie zwei Jahre alt war, zog die Familie nach Genf. Sie setzte sich aber 1994 energisch für die Rehabilitierung von Grüninger ein. 1938/39 habe das Recht aufgehört, «eine festgefügte, verlässliche Referenz» zu sein, sagte sie. An seine Stelle sei das «Gewissen der Gerechten» getreten.
Aber Ruth Dreifuss stellte gemäss Publikationen auch nicht in Abrede, dass ihr Vater Grüninger bei den Behörden belastet habe. Vielleicht habe sich ihr Vater unlauter aus dem Fall des St.Galler Polizeikommandanten Grüninger herausgezogen, um künftig illegale Aktionen zu schützen, mutmasste sie gemäss einer Publikation. Nicht ganz geklärt ist heute auch das Verhältnis zu Regierungsrat Valentin Keel. Ernst Kleinberger berichtete, oft sei Keel im Büro von Sidney Dreifuss an der Teufener Strasse 10 gewesen. Es war das Haus des Vaters von Sydney Dreifuss, von Hermann Dreifuss, wo die Familien Dreifuss auch wohnten. Keel seien dabei die Tränen gekommen, wenn er die Geschichte von Flüchtlingen gehört habe. Als Valentin Keel und sein Sekretär Sidney Dreifuss in seiner Wohnung aufgesucht hätten, nachdem dieser auf dem Weg zu seinem Ferienhäuschen einen Knöchel gebrochen habe, soll dieser nach einer anderen Quelle dargelegt haben, dass man bezüglich der Ausfüllung der Flüchtlings-Fragebogen «nicht immer ganz korrekt» vorgegangen sei. Er habe zugegeben, dass bestimmte Fragebogen mit falschen Daten versehen worden waren und dass er allein im Monat Januar 1939 50 Gesuche habe zurückdatieren lassen. Dieses Vorgehen führte denn auch im Untersuchungsverfahren gegen Grüninger fast zu einer Verhaftung von Dreifuss. Grüninger habe einfach nicht Nein sagen können und so sei ihm die Sache etwas über den Kopf gewachsen, führte er aus. Eine Woche vor der Suspendierung Grüningers war dann Sidney Dreifuss gegenüber dem ausserordentlichen Untersuchungsrichter gegen Grüninger geständig, die Fluchthilfe habe im Auftrag Grüningers systematisch Formulare falsch ausgefüllt, um die Flucht «zu legalisieren».
Von Franz Welte
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