Denise Hofer
«Verknüpfung» ist eine nachhaltige und verbindende Kunstinstallation.
Symbolisch enthüllt Stadtpräsidentin Maria Pappa einen Bildschirm über den man auf die digitale Plattform zugreifen kann.
Mit dem «Weg der Vielfalt» hat die Stadt St.Gallen eine digitale Plattform geschaffen, die 86 Erinnerungsorte dokumentiert. Sie erzählen von Rassismus und Ausgrenzung, aber auch von Widerstand und gesellschaftlichem Fortschritt. Das Projekt entstand in enger Zusammenarbeit mit der Bevölkerung und soll sich kontinuierlich weiterentwickeln.
Stadtgeschichte Welche Geschichte wird erzählt – und welche bleibt im Verborgenen? Diese Fragen standen im Zentrum des Projekts «Weg der Vielfalt», das die Stadt St.Gallen nun offiziell lanciert hat. Auf einer interaktiven Karte sind 86 historische Orte dokumentiert, die von den vielfältigen und oft unbekannten Seiten der Stadtgeschichte zeugen. «Geschichtsschreibung ist nie objektiv. Sie wird von jenen geprägt, die sie erzählen», sagt Maria Pappa, Stadträtin von St.Gallen. «Mit dem 'Weg der Vielfalt' möchten wir verschiedene Perspektiven einbringen und Geschichte aus neuen Blickwinkeln sichtbar machen.» Die Idee für das Projekt entstand im Jahr 2020, als ein politischer Vorstoss zur Schaffung eines «Wegs der Vielfalt» eingereicht wurde. Im Zuge der Umsetzung sammelte die Stadt Vorschläge aus der Bevölkerung. Über 130 Erinnerungsorte wurden von Bürgerinnen und Bürgern gemeldet, von einer Fachgruppe überprüft und zu einer endgültigen Liste verarbeitet. Passend zur Aktionswoche gegen Rassismus wurde das Ergebnis öffentlich zugänglich gemacht.
Der «Weg der Vielfalt» unterscheidet sich von klassischen historischen Stadtrundgängen. Er ist keine touristische Route, sondern eine Plattform für gesellschaftliche Reflexion. Nutzerinnen und Nutzer können die Stadtgeschichte auf einer digitalen interaktiven Karte erkunden. «Die Erinnerungsorte sind in acht thematische Kategorien unterteilt», erklärt Samuel Zuberbühler, Leiter der Standortförderung St.Gallen. «Dazu gehören Migration, Kolonialismus, Frauen- und queere Geschichte sowie Themen wie Rassismus, Antisemitismus und soziale Ungleichheit.» Über das Smartphone erkennt die Karte den aktuellen Standort der Nutzer und zeigt die nächstgelegenen Erinnerungsorte an. Die Texte zu den Orten wurden von rund 25 Autorinnen und Autoren verfasst und bieten eine tiefgehende, aber verständliche Einführung in die jeweiligen historischen Hintergründe. Sie ist nicht nur eine Informationsquelle, sondern auch eine Einladung zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und ihren Auswirkungen auf die Gegenwart.
Die Aufarbeitung der Stadtgeschichte brachte Herausforderungen mit sich. Nicole Stadelmann, Co-Leiterin des Stadtarchivs, erläutert: «Die Fachgruppe musste nicht nur eine Auswahl treffen, sondern auch einen sensiblen Umgang mit Sprache finden. Begriffe, die früher selbstverständlich waren, sind heute oft problematisch. Wir wollten eine Sprache finden, die niemanden ausschliesst, aber dennoch historisch korrekt bleibt.» Eine weitere Herausforderung war die geografische und thematische Balance der Erinnerungsorte. Von den ursprünglich 135 Vorschlägen wurden 86 Orte umgesetzt, da es einige Doppelnennungen gab oder bestimmte Orte mehrfach vorgeschlagen wurden. Die Dokumentation der Stadtgeschichte sei ein fortlaufender Prozess, betont Stadelmann: «Die Vielfalt von Geschichte kann nie vollständig abgebildet werden. Deshalb bleibt das Projekt offen für Erweiterungen.» Bürgerinnen und Bürger können weiterhin Vorschläge für neue Erinnerungsorte einreichen. Der älteste dokumentierte Ort bezieht sich auf das Pogrom von 1349 in der Judengasse, der jüngste erinnert an den tragischen Tod zweier tamilischer Buben im Jahr 1989.
Das Projekt setzt einen bewussten Kontrapunkt zur üblichen Erinnerungskultur. «Der ‘Weg der Vielfalt’ ist kein Weg der Schuld oder Gerechtigkeit», stellt Pappa klar. «Es geht darum, aus der Vergangenheit zu lernen und die richtigen Weichen für die Zukunft zu stellen.» Durch die digitale Aufbereitung und die offene Beteiligungsmöglichkeit verfolgt St.Gallen einen innovativen, partizipativen Ansatz. «Wir wollen, dass sich die Stadtgesellschaft mit ihrer eigenen Geschichte auseinandersetzt», sagt Pappa. «Wir müssen hinsehen und voneinander lernen.» Auch Samuel Zuberbühler sieht den Mehrwert des Projekts in seiner Weiterentwicklung: «Der heutige Stand von 86 Orten ist nur ein Anfang. Neue Vorschläge werden gesammelt, geprüft und bei positiver Beurteilung integriert.» So bleibt das Projekt nicht nur eine digitale Karte, sondern eine lebendige Plattform, die das Geschichtsbewusstsein in der Stadt langfristig prägt.
St.Gallen hat mit dem «Weg der Vielfalt» ein einzigartiges Instrument geschaffen, um sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Die Stadt lädt alle Bürgerinnen und Bürger ein, die interaktive Karte zu nutzen und sich mit der Vergangenheit – und ihren Auswirkungen auf die Gegenwart – zu beschäftigen. Der «Weg der Vielfalt» ist unter www.wegdervielfalt.ch abrufbar. Neue Erinnerungsorte können jederzeit gemeldet werden.
Von Benjamin Schmid
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