Benno Högger
Die Berufsfeuerwehr St.Gallen testet zurzeit den Bio-Treibstoff HVO.
Die Kinderarbeit ist ein dunkles Kapitel in der Geschichte von St.Gallen und Umgebung. In der Textilwirtschaft waren zarte Kinderhände sowohl in der Heimindustrie wie auch in den Fabriken sehr gefragt. Die Tragik der gesundheitsschädigenden Kinderarbeit zeigen die folgenden Auszüge aus Berichten von St.Galler Schriftstellern und Historikern auf.
Wirtschaftsgeschichte Die Kinderarbeit war früher eine allgemeine Begleiterscheinung, um ausreichend Geld zu verdienen. So herrschte vielerorts lange die Ansicht, dass ein striktes Verbot der Heimarbeit den Lebensnerv abschneide, wie Louis Specker in seinem Buch «Links aufmarschieren – Aus der Frühgeschichte der Ostschweizer Arbeiterbewegung» formuliert hat. Angesichts der miserablen Löhne waren die Heimarbeiter auf das Mitwirken der Kinder angewiesen. Dabei darf nicht vergessen werden: Erst im späten 19. Jahrhundert wurde entdeckt, dass die Kindheit einer Schutzzone für die Entwicklung des Menschen bedurfte. Auf der anderen Seite gab es in der Schweiz kein anderes Gewerbe, in welchem die schon länger entschieden verurteilte Kinderarbeit in diesem Ausmass überlebte.
Genau vor 150 Jahren wurde in einem Bericht des sanktgallischen Sanitätsdepartements festgehalten, dass in manchen Gemeinden mehr als die Hälfte der Kinder der unteren Primarklassen «körperlich und geistig ruiniert» war, weil man sie zum Fädeln einsetzte. Eine Erhebung der Sanktgallisch-Appenzellischen Gemeinnützigen Gesellschaft von 1896 ergab, dass 14 Prozent aller schulpflichtigen Kinder zuhause über fünf oder mehr Stunden ausserhalb der Schulzeit zur Arbeit herangezogen wurde. Im ganzen Kanton St.Gallen waren es 1909 8'542 Kinder, die in der Stickereibranche arbeiteten. Vielfach wurden die Kinder schon vor dem Mittagessen eingespannt, mussten über Mittag mithelfen und wieder am Abend, vor und nach dem Abendessen bis zehn oder sogar elf Uhr, wenn rasch ein Auftrag zu erledigen war. In der Weberei herrschten ähnliche Verhältnisse. Eine polizeiliche Untersuchung von 1842 zeigte im Kanton St.Gallen, dass 792 Kinder ab neun Jahren zwischen 12 und 13 Stunden in Fabriken arbeiten mussten. 1869 waren es bereits 1300 Kinder. Für das kleinste Vergehen galt die Prügelstrafe.
In der «Geschichte der Textilarbeiter» von J. Lukas heisst es: «Zu den ergreifendsten Seiten im Buche der Kulturgeschichte der arbeitenden Menschheit gehört das Kapitel über die Kinderausbeutung. Mit der Erfindung der Maschine und dem Aufkommen der Fabrikindustrie begann eine Periode unglaublichster Ausbeutung jugendlicher Arbeitskraft. Der Tod forderte zahlreiche Opfer. Zweifellos war das Kindersterben bei der Geburt des Kapitalismus schlimmer als der bethlehemetische Kindermord zur Zeit von Christi Geburt.» Alfred Swaine, ein guter Kenner der St.Galler Stickereiverhältnisse, erkannte das Problem der Heimstickerei: «Wohl ist der Vater ständig um die Kinder, aber nicht, um sie zu erziehen, sondern um sie auszunutzen, um sie zu Greisen zu machen, noch ehe sie Jünglinge waren.»
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Situation der St.Galler Kinder noch immer prekär, wie die breite Erhebung «Die Erwerbstätigkeit der Schulkinder im Kanton St.Gallen» von 1909 zeigt. 16 Prozent der Kinder im Alter von 8 bis 9 Jahren gaben an, zur Erwerbstätigkeit herangezogen zu werden, bei den 14-Jährigen waren es 15 Prozent. Ab diesem Alter nahm die Beschäftigung wieder ab. Vorschulkinder wurden meist für das Fädeln und Ausschneiden eingesetzt, Knaben häufig auch als Ausläufer. Die meisten mussten täglich zwischen einer und vier Stunden arbeiten. Die Hälfte der Kinder wurden für die Heimarbeit bei den Eltern eingesetzt. Ein Drittel musste in der Landwirtschaft mithelfen. Der Verfasser der Erhebung kam zum Schluss: «Die Kinderarbeit hat sich tatsächlich so stark entwickelt, dass man da und dort füglich von einem Kinderelend sprechen kann.» Ein Kindesschutzgesetz erachtete er als bitternötig, doch vertrat er auch die Meinung, dass eine bessere Entlöhnung der Heimarbeiter das wirksamste Mittel zur Bekämpfung der Kinderarbeit wäre.
In ihrem Buch «Aus Lebenserfahrung und Erinnerung» schrieb die St.Galler Ärztin Frida Imboden-Kaiser (1877 bis 1962), die sich erfolgreich gegen die Kindersterblichkeit einsetzte, als Kinderarbeit noch an der Tagesordnung war: «In meinen Jugendjahren waren die untern Volksschichten überlastet mit Arbeit, sozusagen ohne geregelte Freizeit und Ferien. Selbst Kinder, kaum dem Minimum an Schulzeit entwachsen, wanderten in die Fabrik oder ins 'Geschäft'. Ja sogar die Schulpflichtigen mussten viele Eltern einspannen zur Mithilfe bei der Heimarbeit, um die wöchentliche Lohnsumme für die kinderreiche Familie zu vergrössern.» Auch ein konkretes Beispiel findet sich in den Memoiren von Frida Imboden-Kaiser: «In einem westlichen Nachbarhaus lebte in einer sehr bescheidenen Wohnung eine meiner liebsten Gespielinnen zusammen mit der verwitweten Mutter und einem schwer lungenkranken Bruder. Neben der Schule aber musste Marieli schon Geld verdienen mit Ausschneiden von Kettenstich-Tüllvorhängen. Um sie baldmöglichst für das Spiel mit mir freizumachen, half ich ihr oft beim Ausschneiden. Ich musste eine kleine, schlanke Schere möglichst rasch und ohne das Feston zu verletzen um die Rundungen herum jonglieren. Bald brachte ich es darin zu einer grossen Fertigkeit. An eine andere Heimarbeit der Stickereiindustrie kann ich mich auch noch erinnern, an das sogenannte «Stüpfeln».
In St.Gallen war die Kinderarbeit noch bis über den Zweiten Weltkrieg hinaus eine Tatsache, meistens zur Bewältigung der Familienarbeit. Dies geht auch aus den Interviews von Paul Hugger mit seinen ehemaligen Mitschülern im Buch «Die Barfüssler – Eine Jugend in St.Gallen 1939 bis 1945» hervor. Sein Mitschüler Walter Hamburger verlebte eine arbeitsreiche Kindheit, berufsbedingt durch das kleine Unternehmen des Vaters, aber auch als Folge des Kriegs. So fand der Junge kaum Zeit für Schulaufgaben und hatte entsprechend Mühe, dem Unterricht zu folgen: «Ich musste als Zwölfjähriger jeweils um sechs Uhr in der Frühe aufstehen und das Pferd besorgen, füttern, striegeln und anschirren. Abends sechs Uhr stellte der invalide Angestellte das Fuhrwerk hin, und dann hatte ich den Rest der Arbeit zu tun. Auch wenn der Vater nicht im Dienst weilte, hatte ich kein leichteres Leben. Da wartete er um vier Uhr nachmittags mit dem Fuhrwerk vor dem Schulhaus, und ich musste ihm beim Austragen der Ware bis abends sechs oder halb sieben Uhr helfen, vor allem wenn es um Zügeleien ging. Zuweilen gab es dann auch noch Arbeit nach Feierabend. Der Vater ging öfters abends in den Sitterwald, um dürre Äste zu sammeln, die er zum Teil von den Bäumen absägte, manchmal in zehn, fünfzehn Metern Höhe. Ich folgte später mit dem Handwagen nach, um das Holz einzusammeln. Ich habe mich manchmal geängstigt, wenn ich im eindunkelnden Forst den Vater nicht fand.» Giovanni Dall’Antonia musste der Mutter, einer Gemüsehändlerin, auf dem Markt aushelfen. Er musste einmal in der Woche mit ihr um fünf Uhr früh auf den Markt kommen und den Stand einrichten. Mit dem Militärvelo hatte er auch Kundendienste auszuführen. Auch die «Anbauschlacht» führte zur Mithilfe von Kindern bei der landwirtschaftlichen Arbeit. Es galt, «Pflanzplätze», die wegen der kriegsbedingten Situation wichtige Nahrung lieferten, zu unterhalten, wofür die Mütter zu wenig Zeit hatten. Paul Huggers Fazit: «Kinderarbeit war damals in der Öffentlichkeit kein Problem, niemanden störte es, wenn Schulkinder zu Hause oder im väterlichen Betrieb zu anstrengender und auch zeitraubender Mitarbeit angehalten werden.»
Der Weg zur Einschränkung der Kinderarbeit war mit Steinen gepflastert. Der Widerstand der Unternehmer wie auch der betroffenen Heimarbeiter, die ein zu geringes Einkommen erwarteten, war gross. Der Grosse Rat des Kantons St.Gallen verabschiedete 1853 ein «Gesetz betreffend die Fabrikkinder», das die Arbeit von Kindern in den Fabriken untersagte, was aber oft nicht eingehalten wurde. Bei Verstössen wurden vielfach bloss Verwarnungen ausgesprochen und die Höhe der Bussen war gering. Auf Bundesebene brachte das Fabrikgesetz von 1877 bedeutende Fortschritte. Dieses wurde aber in der Volksabstimmung im Kanton St.Gallen abgelehnt. Es fehlte an Inspektionen, bis 1904 ein Fabrikpolizeibüro eröffnet wurde. 1893 verbot ein weiteres St.Galler Gesetz die Arbeit für Mädchen unter 14 Jahren. Die neuen Vorschriften betrafen aber nur die Fabriken, die Heimarbeit war ausgeklammert. So blieb die kindliche Arbeitskraft bis in die neuere Zeit in der Heimarbeit und in der Landwirtschaft an der Tagesordnung. Das erste Bundesgesetz über die Heimarbeit wurde erst 1946 erlassen.
Von Franz Welte
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