Maria Pappa
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Jakob Vetsch (1879 bis 1942), der das Gymnasium in Trogen und St.Gallen und anschliessend die St.Galler Sekundarlehramtsschule besuchte, veröffentlichte 1923 seinen Zukunftsroman «Die Sonnenstadt – Ein Bekenntnis und ein Weg». Mit dieser Vision, mit dem er den Spott der Presse auslöste, erweist sich der Autor heute teilweise sogar als Wahrsager.
Literaturgeschichte Der Roman, geschrieben mit dem Pseudonym Mundus, zeigt mit der Vision «Soleja» eine andere Welt im Stadtleben auf. Das sonnenstaatliche Leben wird am Beispiel einer Liebesgeschichte vorgeführt. Das Geld ist abgeschafft, was jeder braucht, steht ihm zu. Alle Bewohner sind jahrzehntelang Studenten, sind aber zwischenzeitlich in temporäre Arbeiten eingebunden, die als Lebensarbeit niemandem zugemutet werden können. Der Beruf nimmt 25 Wochenstunden in Anspruch, die übrige Zeit dient der (künstlerischen) Weiterbildung. Die Sexualität ist vom Zwang der Ehe gelöst. Geburtenkontrolle und Empfängnisverhütung sind staatlich geregelt. Der Mutterschaftsurlaub umfasst fünf Jahre. In den Schulen gibt es kein Examen mehr. Die Ehe kann nach fünf Jahren ohne Formalitäten gelöst werden. Die benötigte Elektrizität wird durch Wasser-, Sonnen- und Windenergie erzeugt. Als Freizeitvergnügen werden unter anderem Ausflüge mit dem Elektroauto genannt. Die Emanzipation wird realisiert, indem der alleinstehenden Frau wie der Mutter «die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit garantiert ist». Das Buch endet mit dem flammenden Aufruf: «Nun braucht es Tatbeweise! Ihr Altruisten und Internationalisten, ihr Sozialisten und Kommunisten, ihr Esperantisten und Pazifisten, ihr Freidenker und Freimaurer, ihr Völkerbundshoffer, ihr Menschheitsverbesserer und Weltbeglücker, eint eure Kraft und euer Wollen zu grosser Aktion: Werdet Mundisten, um nachher nichts als Menschen zu sein!»
Genau wie viele Jahre später, im Jahre 1958, die «Frau im Laufgitter» von Iris von Roten war der Zukunftsblick von Jakob Vetsch keineswegs gefragt. Dabei ist vieles, was Jakob Vetsch als Vision darlegte, inzwischen weitgehend erreicht. Andere Neuerungen stehen heute als politische Postulate im Raum, wie etwa das Grundeinkommen. Doch die 40'000 von Jakob Vetsch im Eigenverlag herausgegebenen Bücher lösten eine gehässige Pressepolemik aus und ein Jahr später meldete er Konkurs an, der aber rückgängig gemacht werden konnte. In seinen «Mundistischen Schriftenfolge» versuchte er seine Ideen zu konkretisieren, ohne aber auf viel Echo zu stossen. Frustriert verstummte er.
Jakob Vetsch wurde in Nesslau geboren und kam als Zweijähriger nach Wald, wo sein Vater eine Lehrerstelle bekam. Mit anderthalb Jahren verlor er ein Auge, weshalb er sein Leben lang ein Glasauge trug. Unter dem Verlust der Mutter, die bei der Geburt des sechsten Kindes im Alter von 42 Jahren starb, litt er sehr. 1898, noch vor Abschluss der Sekundarlehramtsschule, zog er von zu Hause aus, um sich ausserhalb der Enge seiner Heimat entwickeln zu können. Es zog ihn nach Paris, wo er «den Glanz der Weltstadt neben dem Schmutz und Elend der Grossstadt» erlebte, aber vom Theater am meisten beeindruckt wurde. Seine Versuche, beruflich Fuss zu fassen, schlugen aber fehl und er kehrte zurück ins Appenzellerland zu seinem Vater, der «stumm seinen verlorenen Sohn einliess». Vater Vetsch hielt seine Verwandtschaft um Geld an, damit sein Sohn ein Studium beginnen konnte. So belegte er an der Universität Zürich Literaturgeschichte, Philosophie und Psychologie.
Nach einem Sprachaufenthalt in London, wo ihn die sozialen Gegensätze noch stärker berührten als in Paris, verlegte er seine Ausrichtung für seine Dissertation auf die Erforschung der Appenzeller Mundarten. An 88 verschiedenen Orten führte er Umfragen über die Dialekte durch. In seinem Aufsatz «Leiden und Freuden eines wandernden Mundartforschers» berichtet er, wie er das Vertrauen der zunächst misstrauischen Appenzeller zu gewinnen verstand. Er ging immer zunächst zum Pfarrer, um sich nach den passenden Leuten zu erkundigen, die noch einen urchigen Dialekt sprechen. Dass der Pfarrer grüssen lässt, war danach einer der Türöffner. Die Dissertation wurde mit aufschlussreichen Begleittexten in verdienstvoller Weise von der VGS Verlagsgenossenschaft St.Gallen 2017 unter dem Titel «On the Rood» neu herausgegeben.
Nach seiner Promotion wurde Jakob Vetsch bei bescheidenem Gehalt Teilzeit-Mitarbeiter am schweizerischen Idiotikon. 1914 legte er sein juristisches Examen ab und trat in ein Zürcher Anwaltsbüro ein. Anschliessend wirkte er als Sekretär des Schweizerischen Bierbrauer-Vereins. 1918 heiratete Vetsch und trat dann von seinem Sekretären-Amt zurück, um sein Buch «Die Sonnenstadt» zu scheiben und damit Impulse für eine neue Gesellschaft zu schaffen. Er konnte das tun, weil ihn das Vermögen seiner Frau eine Zeit lang finanziell unabhängig machte.
Der nicht mehr schriftstellerisch tätige 45-Jährige wollte noch eine Gärtner-Lehre absolvieren und «für sich das Nötigste mit seinen Händen erarbeiten», doch schliesslich privatisierte er einfach. Er zog wegen günstiger Schulungsmöglichkeiten für die behinderte Tochter zunächst nach Vaduz, dann in ein einfaches Haus oberhalb Triesenberg und beteiligte sich uneigennützig an den Hilfsmassnahmen nach dem Rhein-Einbruch 1927, so dass er vom Fürsten eine Auszeichnung erhielt. 1934 übersiedelte er mit seiner Familie nach Oberägeri und konnte nach einer Erbschaft das Haus «Seehöfli» kaufen. So viel wie möglich liess er die Sonnenstrahlen auf sich wirken. Er war in Oberägeri trotz seiner früheren extremen Ansichten wohlgelitten, so dass man ihm, inzwischen Mitglied der Freisinnigen Partei, 1940 das Rationierungsbüro übertrug und ihn 1942 zum Gemeindepräsidenten wählte. Doch dieses Amt konnte er nicht lange ausüben, denn er starb nach kurzer Krankheit noch im gleichen Jahr.
«Die Sonnenstadt» mit seinen Visionen geriet schnell in Vergessenheit, obwohl es auch Persönlichkeiten gab, die Vetschs Wirken zu würdigen verstanden. So der Philosoph und Pestalozzidorf-Gründer Walter Robert Corti. Er schrieb: «Ein Volk ohne Kuriose gleicht einer Suppe ohne Salz. Sie leiden mehr als die Normalen, aber aus ihren Visionen ist immer zu lernen.» Charles Linsmayer, der einen biografischen Abriss von Jakob Vetsch schuf, dem wir die Lebensdaten weitgehend entnommen haben, bilanziert: «Was bleibt, ist die Möglichkeit, diesen seltsamen Mann, sein merkwürdiges, aber weitsichtiges Buch und sein bitteres Schicksal als Mahnung zu betrachten. Als eine Mahnung dafür, dass Humanität und Toleranz einer Gesellschaft sich an nichts anderem so deutlich ablesen lassen wie daran, wie sie die Aussenseiter behandelt, die sie in Frage stellen».
Von Franz Welte
Ich freue mich sehr über diesen Artikel, der Jakob Vetsch und seiner gescheiterten Utopie gerecht wird. Die Informationen entstammen meiner Neuausgabe von «Die Sonnenstadt» von 1981, sie beruhen auf Informationen von Zeitzeugen. Vetsch ist auch ein Thema in meinem eben erschienenen Buch «Die andere Schweizer Literatur», Reprinted by Huber Nr. 42, Th. Gut Verlag Zürich. Charles Linsmayer, Zürich
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